Nichts hat seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7.10.2023 mehr Schlagzeilen verursacht als die Diskussion darüber, wie sich der Antisemitismus in der Welt und insbesondere in Deutschland entwickelt hat. Wir sehen, vor allem in den Städten, Bilder von aufgebrachten Menschenmengen, die Plakate mit arabischen Schriftzeichen schwenken und lesen von steigenden Zahlen Betroffener von antisemitischen Angriffen auf deutschen Straßen. Wohnt man in einer der Metropolen erlebt man solche Vorfälle vielleicht in unmittelbarer Nachbarschaft, auf dem Dorf hingegen ist man auf die Berichterstattung in den Medien angewiesen. Ob als unmittelbarer Zuschauer oder als Beobachter aus der Ferne, versteht die Mehrheit der Bevölkerung eigentlich, wovon sie Zeuge wird?
Die allermeisten Menschen denken bei dem Wort Antisemitismus an den Holocaust und das, was sie vielleicht im Religionsunterricht über den Jüdischen Glauben gelernt haben. Das jedoch beschreibt nur Bruchstücke dessen, was Juden selbst erzählen, wenn sie erklären, was für sie Judentum bedeutet. Viele von ihnen praktizieren z.B. ihren Glauben gar nicht mehr, ebenso wie die meisten der deutschen Christen heutzutage. Vielmehr fühlen sie sich als Volk, welches wie kein anderes über die Welt verteilt lebt und Israel als seinen Staat ansieht, den man als Jude einmal im Leben besucht haben möchten. Worüber reden wir also, wenn von Antisemitismus die Rede ist?
Nach der Definition der International Holocaust Remebrance Alliance ist Antisemitismus „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden (…)“. Das ist schon der Kern, auf den es ankommt: Eine, ganz bestimmte Sicht dominiert, anstatt die jeweilige Person in ihrer Unterschiedlichkeit und Individualität wahrzunehmen. Wer sich über jüdische Menschen eine Meinung bildet, die von ihrem Judentum abgeleitet wird anstatt von ihrem konkreten persönlichen Verhalten, handelt antisemitisch. Juden und Jüdinnen haben außer ihrem Jüdischsein erst einmal nichts gemeinsam—sie sind genauso unterschiedlich wie Angehörige anderer Religionen und Kulturen. Auf dieses Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe kommt es an: Antisemitismus fängt da an, wo aus der Gruppenzugehörigkeit Eigenschaften Einzelner abgeleitet werden und umgekehrt. Wenn Juden als Gruppe Eigenschaften zugeschrieben werden, die über ihr faktisches Jüdischsein hinausgehen, ist das antisemitisch.
Hätten Sie es gewusst, geschweige denn so klar beschreiben können? Ich befürchte, der Großteil der deutschen Bevölkerung wäre damit überfordert. Warum? Antwort: Weil dieses Wissen nicht vermittelt wird! Es gab in Deutschland eine Generation, die die Beschäftigung mit diesem Thema aus Scham und Schuldgefühl vermieden hat. Deren Kindern wurde weder im Elternhaus noch in der Schule vermittelt, was der Begriff Judentum überhaupt bedeutet. Diese Kinder wiederum sind heute Lehrer und bestimmen, wie und vor allem wie tief dieses Thema im Unterricht behandelt wird. Das Wissen darüber, was Jüdisches Leben beinhaltet, muss aber zur Allgemeinbildung gehören, wenn man Antisemitismus bekämpfen möchte! Eindeutig zu begrüßen ist deshalb die Initiative des Schleswig-Holsteinischen Landtages, eine Bildungsoffensive gegen Antisemitismus zu starten! Schon 2024 soll eine Änderung des Schulgesetzes erfolgen, die den „Einsatz gegen Antisemitismus, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie gegen die Wiederbelebung oder Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts“ als Bildungs- und Erziehungsziel verankert. Viele von uns haben Anfang November Stolpersteine geputzt und werden das sicher auch weiterhin tun. Diese Aktionen erinnern zu Recht immer wieder an unvorstellbares Leid in der Vergangenheit und müssen dringend ergänzt werden um das Wissen um die Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland! In diesem Zusammenhang sei die Empfehlung für den prämierten Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“ aus dem Jahr 2020 von Arkadij Khaet erlaubt. Anschauen lohnt sich!